Es war ein Hochsommer-Tag, wie er im Buche steht, als wir, pünktlich wie Schweizer Uhren, am 4. Juli in Estlands Hauptstadt Tallin eintrafen. Dieser Tag war natürlich etwas ganz Besonderes, denn es sollte die große Feier des 15. Jubiläums des Texas Honky Tonk & Cantina sein – und das passenderweise am Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten. Dass wir es tatsächlich rechtzeitig zur Feier geschafft haben, war bei weitem nicht selbstverständlich, denn unsere Route führte uns auf einer mehrstufigen Reise über das Meer. Im Rahmen unserer Tour Skandinavien – Baltikum – Russland hatten wir mit dem Bus und gleich vier verschiedenen Schiffen die weite Strecke von Stockholm quer über die Ostsee bewältigt.
Unser Schiff, eine unter maltesischer Flagge fahrende Schönheit mit Heimathafen Valletta, dockte am Vormittag pünktlich im Hafen von Tallin an. Nach einem etwas langwierigen Ausschiffen und einer ausführlichen Passkontrolle standen wir endlich auf estnischem Boden. Als Wiedersehen mit der Stadt gönnten wir uns zuerst eine geführte Stadtrundfahrt, um besonders die Ecken Tallins zu sehen, die uns bei vorherigen Besuchen entgangen waren. Diesmal beeindruckte uns besonders das alte Katharinenviertel mit seinem urigen Charme, bevor wir den Ausflug als Rebellion gegen die Reisepauschale auf eigene Faust fortsetzten.
Unser Ziel war die wunderschöne Altstadt – mit ihren mittelalterlichen Mauern und Türmen, die jedem Besucher förmlich entgegenschreien: „Willkommen im Herzen der Geschichte gemeinsam mit dem Puls der Moderne!“ Das eigentliche Highlight – und auch unser eigentliches Ziel – jedoch lag an der Pikk-Straße. Es handelte sich um keines anderem als das „Texas Honky Tonk & Cantina“, ein Lokal, das voll und ganz dem texanischen Americana-Stil verschrieben ist und für uns schon länger regelrechte Kultstätte darstellte (wie in meinem Bericht in der Western Mail des letzten Jahres nachzulesen ist).
Bereits beim Betreten des Lokals wurden wir herzlichst und „in Texas Manier“ – ja, genau so, wie man sich das vorstellt – willkommen geheißen. Passend zum Anlass wurde das Lokal nicht nur festlich dekoriert, sondern natürlich auch musikalisch eingeweiht: Live-Country in allen Stilrichtungen bildete die musikalische Untermalung des Tages, und die Klänge von Banjo, Gitarre und treibenden Schlagzeugrhythmen begannen schon am frühen Nachmittag zu erklingen. Kaum angekommen, platzierte uns die äußerst freundliche Bedienung und alte Bekannte Kristiina an unseren Lieblingsplatz auf der halbschattigen Sommerterrasse. Dort gönnten wir uns unsere klassischen Fajitas sowie den zum Haus gehörenden Rotwein. So konnte der Tag beginnen – oder sollte man sagen: die Nacht?
Ein wenig Zeit hatten wir noch, bevor unser Schiff wieder um 18 Uhr in Richtung St. Petersburg auslaufen sollte. Und diese Zeit füllten wir mit Musik, gutem Essen und netten Gesprächen. Die Stimmung war entspannt und festlich zugleich. Es lag eine besondere Energie über dem Tag – wahrscheinlich eine Mischung aus Texanischem Nationalfeiertag, Jubiläumsfreuden und der typisch heiteren Atmosphäre eines Sommernachmittags im wunderschönen Baltikum.
Ein wenig musste ich an unsere Fahrt von Travemünde nach Trelleborg auf der „Nils Holgersson“ zurückdenken, wo mir vor einigen Tagen schon das bunte Treiben von US-Car-Fans aufgefallen war. Amüsant war die Begegnung mit Andy und Willi aus Hamburg, die in ihrem bronzefarbenen 1965er Plymouth Cabrio unterwegs waren. Sie wollten weiter nach Västeras, um am Power Big Meet teilzunehmen – dem größten US-Car-Treffen in Schweden mit über 20.000 Oldtimern. Diese Art von Reisen und Begegnungen sind es, die einen spüren lassen, wie eng doch die Welt miteinander verknüpft ist. So wie wir für Country-Musik und amerikanische Kultur nach Estland gereist waren, kamen sie für ihre Leidenschaft nach Schweden.
Doch zurück zum Texas Honky Tonk & Cantina. Drinnen warteten einige Neuerungen auf uns. So war der Saloon ein wenig renoviert worden, und sogar die Herrentoilette erstrahlte in neuem Glanz. Die Änderungsarbeiten hatten den ursprünglichen Charme jedoch keineswegs zerstört. Wie eh und je hingen die urigen Tequilaflaschen per Seilzug an der Tür, um sicherzustellen, dass diese immer wieder schwungvoll zufiel.
Kristiina, die sich heute ausnahmsweise frei genommen hatte, verriet uns zwischen den Gängen unserer Mahlzeit einige Anekdoten der letzten zwei Jahre. Besonders stolz erzählte sie von der Texas-Reise des Teams im Frühjahr, wovon auch mehrere Fotos an den Wänden des Lokals Zeugnis gaben. Es war klar: Die Mitarbeiter, allen voran Kristiina, lebten diesen amerikanischen Traum hier in Tallin mit Leib und Seele. Ein wahres Stück Texas in Estlands charmant restaurierter Altstadt.
Langsam begann die Party erst richtig loszugehen, als die zweite Band des Tages die Bühne betrat. Jung, ungestüm und voller Authentizität interpretierten sie den modernen Country-Sound auf ihre ganz eigene Art. Es war einer dieser Momente, in denen man für eine kurze Zeit einfach die Augen schließen und sich in die Musik fallen lassen konnte.
Leider hieß es für uns jedoch bald Abschied nehmen, da wir unser Schiff in Richtung St. Petersburg nicht verpassen wollten. Dennoch fühlten wir uns erfüllt und glücklich, wieder einmal Teil dieser besonderen Feier gewesen zu sein. Kristiina hatte uns versprochen, Fotos von der langen Geburtstagsnacht zu schicken, die sie selbst in ihren eigenen 25. Geburtstag hinein feierte.
Warum uns dieses kleine Texas in Tallin so ans Herz gewachsen ist? Weil es ein Ort ist, der Country-Liebe lebendig macht und uns – trotz allem, was die Welt an Chaos bereithält – für einige Stunden in diese harmonische Seifenblase aus Musik, Kulinarik und Menschen mit dem gleichen Herzschlag eintauchen lässt. Ja, es mag nicht um die Ecke liegen. Ja, die Anreise kann manchmal beschwerlich erscheinen. Aber jeder einzelne Moment dort ist es allemal wert.
Unser Fazit: Wenn Sie einmal in Tallin sind – oder auch nur annähernd in der Gegend – sollten Sie diesem Ort unbedingt einen Besuch abstatten. Es wird ganz sicher auch Ihr Herz erobern.