
Verstorben: Jerry Lee Lewis, der „Last Man Standing“
Während der letzten Oktobertage sorgte der Name Jerry Lee Lewis weltweit für Aufregung. Es begann eher würdevoll mit seiner Aufnahme in die Country Music Hall of Fame in Nashville. Der 87jährige Künstler konnte diese Ehrung allerdings nicht selbst entgegennehmen. Sein alter Weggefährte Kris Kristofferson brachte die Auszeichnung zu ihm auf seine Ranch nach Nesbit, Mississippi. Das Foto des kranken „Killers“, wie er von seinen Fans genannt wurde, ging sofort um die Welt. Wenige Tage später sauste dann eine unbestätigte Nachricht vom Ableben Jerrys in Windeseile durch die Medien, nur um umgehend widerrufen zu werden. Doch zwei Tage danach wurde es traurige Gewissheit: Jerry Lee Lewis erlag am 28. Oktober den Folgen einer Lungenentzündung.
Jerrys Karriereverlauf wird den meisten Kennern des Rock & Roll und der Country & Western Music vertraut sein. Alles begann bei Sun Records in Memphis, wo er quasi die von Elvis Presley hinterlassene Lücke ausfüllte. Seine dort zum Jahresende 1956 erschienene erste Single „Crazy Arms“ erweckte jedoch kaum Eindruck. Da waren seine Kollegen bereits wesentlich weiter. Elvis galt inzwischen fast als Weltstar, Johnny Cash blickte schon auf seine ersten Nummer-1-Hits „Cry, Cry, Cry“ und „I Walk the Line“ zurück, und Carl Perkins sonnte sich im Ruhm seiner legendären „Blue Suede Shoes“. Trotzdem gesellte sich Jerry am 4. Dezember 1956 im Studio von Sun Records zu diesen bereits etablierten Stars, und vervollständigte solcherart das später „Million Dollar Quartet“ genannte Ensemble. Im Jahr darauf schloss Jerry in Sachen Erfolge zu den drei anderen Musikern auf. Mit "Whole Lot of Shakin' Going On" und "Great Balls of Fire" schrieb er ebenfalls ein bisschen Musikgeschichte. Beide Titel besetzten nämlich 1957 die Spitzenposition, und zwar sowohl im Bereich Country & Western, als auch beim Rhythm & Blues.
Es ging erstmal ein paar Monate so weiter. Eine 1958er Single von Jerry stand gar als Namensgeberin Pate für einen s/w-Spielfilm. In „High School Confidential“ gab es nämlich im Vor- und Nachspann einen Auftritt von ihm, bei dem er auf der Ladefläche eines fahrenden LKWs Klavier spielt – natürlich „High School Confidential“ – und so seine Schallplatten bewirbt. „Mit Siebzehn am Abgrund“ lautete der deutsche Filmtitel. Den Streifen gibt es inzwischen auch auf DVD (s. Country-Mag vom 7. Juli 2018).
Aber dann startete der neue Rock & Roll-Star im Mai 1958 seine erste Europa-Tournee, und bereits bei der Ankunft im Londoner Flughafen geschah das Malheur. Ein Journalist erfuhr durch gezieltes Nachfragen mehrere unerhörte Dinge von Jerrys mitgereister Gattin Myra. Nicht nur, dass mit ihr bereits die dritte Ehe des 22jährigen Jerry geschlossen wurde, und nicht nur, dass es sich bei ihr um seine eigene Großcousine handelte, sondern auch, dass sie bei der Eheschließung erst 13 Jahre alt war. Dies alles kochte in der Presse hoch. Der sich nun entwickelnde Skandal blieb nicht ohne Folgen. Die für fast vierzig Auftritte geplante Tournee musste nach drei Konzerten komplett abgesagt werden. Jerrys Schallplatten lagen nun wie Blei in den Regalen der Fachgeschäfte, in Europa wie in Nordamerika. Nach 1958 gelang ihm nur mit „What’d I Say“ noch einmal 1961 ein nennenswerter Erfolg. Sein Vertrag mit Sun Records lief somit 1963 aus, und Jerry landete bei der Firma Smash Records in Nashville.
Zuerst verbesserte sich auch dort eigentlich nichts, denn Erfolge in den Charts gab es keine. Allerdings trat der Künstler inzwischen auch anderenorts wieder verstärkt auf, so auch häufig in Europa, und feierte durchaus respektable Erfolge. Seine LP „Live at the Star Club in Hamburg“ gilt inzwischen als eines der besten Live-Alben weltweit. Und mit deren US-Nachfolger „The Greatest Live Show on Earth” tauchte Jerry plötzlich auch wieder in den US-Charts auf, wohlgemerkt 1964, als eigentlich die sogenannte British Invasion den US-Musikmarkt völlig überrollte.
Zwischendurch gab es noch eine vermeintliche Sensation. Auf Sun International, also Nashvilles Nachfolger von Sun Records, erschien 1978 eine Single mit dem Titel „Save the Last Dance for Me“. Als Interpreten gab es die Bezeichnung Jerry Lee Lewis und den Hinweis „Duet“, womit die seitens der Schallplattenfirma erhofften Spekulationen über eine gemeinsame Einspielung des Titels von Jerry und Elvis Presley jede Menge Nahrung erhielten. Zuletzt stellte sich jedoch eine Mitwirkung von „Orion“ heraus, mit richtigem Namen Jimmy Ellis. Er betätigte sich als Elvis-Imitator, und setzte hier seine stimmliche Ähnlichkeit mit dem „King“ erfolgreich ein.
Weitere bedeutende Arbeiten gab es jedoch zum Beispiel in Form der „Survivors“. Unter Bezug auf das bereits erwähnte „Million Dollar Quartet“ trafen sich 1981 die drei noch lebenden Teilnehmer dieser damaligen Session, also Jerry, Johnny Cash und Carl Perkins, im württembergischen Böblingen live auf der Bühne. Die gleichnamige LP erreichte in den US-Country Album Charts 1982 immerhin die Pos. 21. Und 1985 entstand mit der “Class of '55: Memphis Rock & Roll Homecoming” eine weitere geradezu meisterliche LP. Jerry, Cash, Perkins und dazu Roy Orbison trafen sich in Memphis im Sun Studio und in den American Studios, und spielten genau zehn Titel ein. In den Country Albums Charts besetzte diese LP Position 15. Jerrys oben genannte Single „Sixteen Candles“ entstammte dieser Session. Im gleichen Jahr (1986) gehörte er übrigens zu den ersten Künstlern, die in der in Cleveland, Ohio neu erschaffenen „Rock & Roll Hall of Fame“ Aufnahme fanden.
Neben allen diesen Glanzpunkten gab es leider auch einige weniger schöne Dinge in Jerrys Leben, wie beispielsweise seine Auseinandersetzungen mit der US-Steuerbehörde IRS. Teilweise wurde sein Vermögen beschlagnahmt, und 1988 musste er sich für zahlungsunfähig erklären. Im Privatleben brachte er es auf sieben Ehen, aus denen sechs Kinder entsprossen, von denen einige tragische Schicksale erlitten.
Dafür startete 1989 der biografische Kinofilm „Great Balls of Fire“, mit Dennis Quaid in der Rolle des „Killers“. Zwar kein Riesenerfolg, aber immerhin spielte er seine Kosten wieder ein. Auch dieser Streifen lässt sich inzwischen als DVD und Bluray fürs Heimkino erwerben (s. Country-Mag vom 10. Mai 2018).
In den neunziger Jahren gab es zwar kaum noch Schallplattenerfolge, doch Jerry blieb nicht untätig. Seine Tourneen – auch in Europa – brachten stets ausverkaufte Säle. Und plötzlich reizte ihn auch wieder die Studioarbeit. Nach mehr als zehn Jahren Pause erschien 2006 mit „Last Man Standing“ ein fabelhaftes Duette-Album, wo Jerry u. a. mit John Fogerty, Ringo Starr, Toby Keith, uvm. zu hören ist. Weltweit verkaufte es sich über eine Million mal. Vier Jahre später veröffentlichte er mit „Mean Old Man“ eine weitere CD mit Duett-Aufnahmen und einer ähnlichen Besetzungsliste, welches sich international gleichfalls zu einem großen Verkaufserfolg entwickelte. Sein letztes Studioalbum erschien 2014, und nannte sich „Rock & Roll Time“ (s. Country-Mag vom 21. November 2014).
Nach Elvis Presley (1977), Carl Perkins (1998) und Johnny Cash (2003) verließ uns mit Jerry Lee Lewis nun der musikalisch wirkliche „Last Man Standing“.
Ulrich K. Baues

